Nachdem die türkische Wahlkommission den Antrag einiger Oppositionsparteien auf Annullierung des Verfassungsreferendums vom 16. April verworfen hat, erwägt die oppositionelle CHP Medienberichten zufolge den Gang nach Straßburg. Dem halten türkische Spitzenpolitiker entgegen, der EGMR sei hierfür nicht zuständig. Was ist hiervon zu halten?
Zunächst einmal haben wir uns schon daran gewöhnt, dass politische Auseinandersetzungen aus der Türkei schlussendlich in Straßburg ausgetragen werden. Die Liste der Parteiverbotsverfahren, die auf den Prüfstand des EGMR gestellt wurden, ist lang – zumeist mit Ausgang zugunsten der Beschwerde führenden Parteien. (Nicht zuletzt diese Straßburger Rechtsprechung hat im Übrigen das deutsche Bundesverfassungsgericht dazu bewogen, im neuerlichen NPD-Verbotsverfahren nachzusteuern!) Doch geht es hier nicht um ein Parteiverbot, sondern um die Teilnahme an einem nationalen Referendum.
Die Tatsache, dass das Referendum Bestimmungen aus der Verfassung zum Gegenstand hatte, ist aus Sicht der EMRK irrelevant. Es gibt keinen „Verfassungsvorbehalt“ in der EMRK, insoweit ganz völkerrechtlicher Sichtweise entsprechend. In der Vergangenheit hat es durchaus schon Fälle gegeben, in denen der EGMR eine Verfassungsbestimmung beanstandet hat – der Fall Anchugov und Gladkov über den Ausschluss Strafgefangener vom Wahlrecht in Russland ist hierfür nur ein besonders prominentes Beispiel. Dass ferner bei dem Referendum der Souverän, das Volk, zu Worte kam, steht einer konventionsrechtlichen Kontrolle gleichfalls nicht entgegen. Man denke hier nur an das Schweizer Minarettverbot, das zwar vom EGMR (noch?) nicht beanstandet worden ist, dessen Vereinbarkeit mit der EMRK aber erheblichen Zweifeln unterliegt.
Was also macht die türkische Seite so sicher, dass die CHP mit einer Beschwerde in Straßburg keinen Erfolg haben wird? Und das, obwohl die Liste der Beanstandungen durch die OSZE-Beobachtermission lang ist? Die Frage, auf die letztlich alles zusteuert, ist die nach der Zuständigkeit des Gerichtshofs. Denn auf welches Recht sollte sich die CHP berufen können? Als erstes fällt einem hierzu Artikel 3 des Ersten Zusatzprotokolls ein. Dort ist in der Tat die Rede von der „freien Äußerung der Meinung des Volkes“, und daran kann man nach allem, was den Medien zu entnehmen war (massive Einschüchterungen im Wahlkampf; Zulassung auch ungestempelter Stimmzettel usw.), ernsthafte Zweifel haben. Nur: Art. 3 ZP-EMRK gilt eben nicht für alles und jedes, sondern nur bei der „Wahl der gesetzgebenden Körperschaften“. Darunter versteht der EGMR die Legislative – nicht notwendigerweise das gesamtstaatliche Parlament, erfasst sind beispielsweise auch Wahlen zu den Landesparlamenten. Zudem hat der EGMR im Matthews-Fall entgegen früherer Straßburger Spruchpraxis das Europaparlament unter den Begriff des Legislativorgans gefasst. Ausdrücklich abgelehnt hat er aber bislang, Referenden unter den Begriff der Wahl zu einer gesetzgebenden Körperschaft zu fassen (Fall Hilbe gegen Liechtenstein). An diese Rechtsprechung ist er zwar nicht streng gebunden – es bedürfte aber schon einiger Phantasie, um das türkische Verfassungsreferendum zu einer „Wahl der gesetzgebenden Körperschaft“ umzumünzen. Jedenfalls wäre zu erwarten, dass eine derart weitreichende Korrektur von der Großen Kammer vorgenommen wird. Die CHP kann das probieren – für wahrscheinlich halte ich eine Rechtsprechungsänderung nicht.
Hilft also Art. 3 ZP-EMRK nicht weiter, wäre noch an Art. 13 EMRK zu denken. Wiederum nach Auskunft der türkischen Regierung kann die Entscheidung der Wahlkommission nicht gerichtlich angefochten werden. Das könnte auf eine Verletzung des Art. 13 EMRK hindeuten – im Ergebnis hätte eine Beschwerde meines Erachtens aber ebenfalls keine Aussicht auf Erfolg. Denn zum einen verlangt Art. 13 EMRK nicht zwingend einen gerichtlichen Rechtsbehelf, sondern spricht allein von einer „wirksamen Beschwerde“. Darunter fällt prima facie auch das Verfahren vor der Wahlkommission. Ob dieses den Titel „wirksam“ verdient, vermag ich mangels Einblicken in die türkische Rechtswirklichkeit nicht zu beurteilen. Aber selbst wenn hier Defizite bestehen sollten, so spricht gegen eine Verletzung des Art. 13 EMRK zudem dessen akzessorischer Charakter. Garantiert wird eine wirksame Beschwerde (lediglich) wegen behaupteter Verletzung eines Konventionsrechts (Verletzungen der Zusatzprotokolle stehen dem gleich). Und hier beißt sich die Katze gewissermaßen in den Schwanz: Da Art. 3 ZP-EMRK von seinem Schutzbereich her nicht eröffnet ist, läuft auch Art. 13 EMRK insoweit leer.
Allerdings gibt es noch eine weitere Bestimmung in der EMRK, die – im Unterschied zu Art. 13 – einen gerichtlichen Rechtsbehelf verlangt, nämlich Art. 6 Abs. 1 EMRK. Doch ist der Schutzbereich dieser Vorschrift wiederum eingeengt: Sie kommt nur zum Zuge bei Streitigkeiten über „zivilrechtliche Ansprüche“ oder „strafrechtliche Anklagen“. Bei aller konventionsautonomen Interpretation dieser Begriffe – es fällt mir schwer, die Teilnahme am Verfassungsreferendum unter eine dieser beiden Alternativen zu fassen.
Nicht ausschließen kann ich, dass im Zuge des Verfassungsreferendums begangene Konventionsverletzung mit Erfolg in Straßburg gerügt werden, etwa Verstöße gegen die Meinungs- oder Versammlungsfreiheit (Art. 10, 11 EMRK). Doch dürfte es sich dabei um Vorfälle handeln, die zwar mit dem Referendum in Zusammenhang stehen, aber nicht die Gültigkeit des Referendums als solche betreffen.
Wie man es auch dreht und wendet: Es fällt schwer, das Verfassungsreferendum in der Türkei in den Anwendungsbereich der EMRK zu bringen. Auch wenn die EMRK nach ihrer Präambel auf die Etablierung einer „wahrhaft demokratische[n] politische[n] Ordnung“ ausgerichtet ist, so führen doch selbst massive Verstöße gegen etablierte Standards nicht automatisch dazu, dass die Zuständigkeit des EGMR eröffnet wäre. Der Generalsekretär des Europararates Jagland wird in den Medien mit den Worten zitiert, es gebe keine internationale Instanz, die Referenden in irgendeinem Land annullieren könne – das deckt sich mit dem hier gewonnenen Ergebnis.
Ist der Europarat also zur Tatenlosigkeit verdammt? Nicht ganz. Schon im Vorfeld des Verfassungsreferendums hat sich die Venedig-Kommission des Europarates kritisch zu Wort gemeldet (Opinion No. 875/2017). Im Unterschied zum EGMR ist die Venedig-Kommission kein Gericht, sondern ein mit hochangesehenen Verfassungsexperten besetztes Beratungsgremium. Ursprünglich lag der Fokus der Kommission ganz auf den Staaten Mittel- und Osteuropas, heute wird sie ganz allgemein zu Zwecken des „constitutional engineering“ eingesetzt. Die Mittel der Venedig-Kommission sind ohne Zweifel begrenzt, sie ist wesentlich auf die Befolgung durch den jeweils betroffenen Staat angewiesen. Dass die Türkei unter Präsident Erdogan hierzu nicht bereit sein wird, steht zu erwarten. Doch ist die Venedig-Kommission einer der Kanäle, um (im Verbund mit Europäischer Union und OSZE) den politischen Druck auf die Türkei zu erhöhen. Das ist wenig genug, gewiss, aber mehr gibt die Rechtslage momentan nicht her.